Samstag, 11. März 2017

Die Welt besteht nie nur aus dem Teil in dem man sich gerade befindet

Ich kann nicht schlafen. In der örtlichen Poststelle wartet ein petrolfarbener Penis auf mich. Ich sehe schön aus, kann man echt mal so machen. Bisschen aufgeregt bin ich auch weil ich nicht weiß, was genau „diskrete Verpackung“ bedeutet. 
Beim Frühstück fange ich an, das Buch von Eva Illouz zu lesen. „Warum Liebe weh tut“.
Aus der Einleitung geht hervor, dass die Liebe und die romantische Zweierbeziehung seit jeher ein patriarchales Machtinstrument gewesen ist, unter dem Frauen, die sich in einer Partnerschaft nach Selbstaufgabe sehnen, leiden, und Männer, die „in jeder Beziehung sie selbst bleiben“, profitieren.
Ich denke an meine letzten Beziehungen und denke, dass sie irgendwie recht hat. Ich bin natürlich Teil des Problems, weil ich trotz Feminismus noch nicht verstanden habe, dass die Liebe nicht das oberste Ziel der Anstrengung ist. Oberste Prämisse, Oberste Priorität, Schlüssel zum Glück. Cheesy, hm?
Wenn ich cheesy schreibe, muss ich auch immer an O. Denken, mit dem ich einen cheesy Regenkuss hatte, dann einen schönen Abend an meinem Küchentisch, Rotwein und kalte Kartoffeln und unfassbar weiche Küsse über den Tisch. Als dann mein Mitbewohner nach Hause kam, verabschiedete O. sich und das wars dann auch. Seitdem nur komische Begegnungen, angestrengte Coolness auf Freundschaftsbasis. Aber immerhin konnte ich neulich einen guten Spruch zu seinem Erpel-Trachtenjäckchen machen.
Die Frau auf der Post weiß ganz genau bescheid. Sie fragt mich ob ich noch „ein paar schöne Briefmarken“ gebrauchen kann, flüstert dann fast als sie mir „einen ganz schönen Tag“ wünscht. Vielleicht hat sie dabei sogar gezwinkert, aber vielleicht bilde ich mir das auch jetzt ein.
Das Paket ist nur weiß, es steht ein komischer Name irgendeiner Internetagentur darauf. Auffälliger geht’s nicht. Ich habe entweder Drogen, Waffen oder Sexspielzeug im Internet bestellt müssen die alle denken. Ich kann sehen wie der Mann hinter mir in der Schlange wegen der Größe des Pakets ein Maschinengewehr ausschließt und mich mit weit aufgerissenen Augen ansieht, weil er einen anderen Verdacht hat. Das habe ich mir allerdings wirklich eingebildet.
Der Penis passt nicht in meinen Jutebeutel. Sehr ärgerlich. Ich kann also nicht einfach aufs Fahrrad steigen und ihn nach Hause fahren, sondern muss schieben und ihn tragen. Dabei muss ich grinsen weil niemand wissen kann, was ich da mit mir rumtrage und was ich damit machen werde. Ich fühle mich sehr gut, sehr überlegen.
Kurz muss ich mit dem Penis über die Straße rennen, dann bin ich fast da. Schnell bringe ich ihn in seinem kleinen weißen Papphaus in mein Zimmer, damit mich niemand fragt, was ich da bestellt habe.
Ich muss ihn erstmal aufladen. Dafür gibt es ein USB Kabel, das ich in den Laptop stecke. Kurz muss ich lachen wegen Geschlechtskrankheiten und Computervirus und so, finde mich dann aber schnell kindisch und teste lieber die Funktionen von meinem neuen Mitbewohner.
Als ich los muss, verstecke ich ihn unter meiner Bettdecke, weil ich ausschließen will, dass ihn jemand findet. Es geht ohnehin niemand in mein Zimmer, aber wenn, dann muss der Penis ihnen ja nicht die Tür aufmachen.

Auf dem weg nach Hause beschließe ich, ins Krankenhaus zu fahren, weil ich gerade noch nicht genug zu tun habe.
Ich bin seit Tagen betrunken, nur von Wasser und Ibuprofen 400. Latentes Karussell. 
Als ich da ankomme warte ich ewig, aber weniger lang als ich vom Krankenhaus erwartet hätte.
Alle Frauen, die mich heute behandeln sind sehr nette women of colour, sie nehmen mich ernst und kümmern sich um mich. Der einzige Typ, der wirklich unfreundlich ist, ist der alte weiße Chefarzt.
Interessante Beobachtung aus dem Alltag.
Ich fange langsam schon an, zu glauben, dass ich mir das alles nur einbilde.
Aber die Doppelbilder sind real. I´m real, I´m real, I´m really really real singen sie.
Es stehen falsche Kreuzchen auf meinem MRT Aufklärungsbogen, ob ich eine Infektionskrankheit hätte, Hepatitis, Tuberkulose, HIV/Aids oder so, da steht ja, hab ich aber nicht. Es sei denn, die, die das Kreuzchen gemacht haben, wissen mehr als ich.
Heute Morgen, nachdem ich meiner Mutter telefonisch zum Geburtstag gratuliert habe, kommt ein netter Ergotherapeut, der Marc-Aurel heißt. Schöner Name, denke ich und freu mich über die Erfindung der Namensschilder.
Er sagt ich habe einen langen Hals, zwar nicht mit dem einer Giraffe vergleichbar, aber doch schon länger als andere Hälse. 
Dann drückt er an ein paar Stellen in den Nacken, was tierisch weh tut. Giraffen haben im Vergleich zu ihrem Hals aber auch einen sehr kleinen Kopf. Ich hingegen habe eine 6 kiloschwere Wassermelone auf einer Salzstange getragen.
(Dirty Dancing)
Marc Aurel ist schon der Dritte, der mir einen Stift vors Gesicht hält und mit mir einen Fokustest macht.
Als er geht drückt er mir noch einen Flyer in die Hand, von der Ergotherapie, da steht drauf: Ergotherapeutische Rehabilitation bei Schlaganfall. Wieder was, was ich nicht weiß.
Frau Schulz und ihre Hobbits kommen später. Ich hoffe, es sind Medizinstudenten, ich bin sehr cool und begrüße alle. Warum das Kreuzchen falsch ist, wissen die aber auch nicht.

„Woher kommen eigentlich deine Eltern“ „Ja ich mag ja diesen crazy Mix!“ „Mach mal einen Samba-Schritt!“.
Ich bekomme an einem Tag drei mal Besuch und alles was ich tue, ist Germanys Next Topmodel zusammenzufassen.
Ich frage mich, ob C. weiß, dass ich hier bin. Und dann frage ich mich weiter, ob er, wenn er wüsste, dass ich hier bin, mich besuchen kommen würde.
Ich denke hier erstaunlich wenig an ihn, nur wenn mir wirklich extrem langweilig wird (so wie gerade) dann denke ich mir, wie die Tür aufgeht und er reinkommt und mir Blumen vom Markt mitbringt wie früher und wir Witze über meinen Popcornkonsum machen.

Heute kommt wenigstens ein bisschen die Sonne raus. Wenn ich mit beiden Augen gucke, sehe ich sie zweimal.
Heute passiert hier überhaupt nichts, also noch weniger nichts als eh schon. Keine Untersuchungen, keine Bilder von meinem Kopf, keine Bilder von meiner Wirbelsäule. Ich dachte vorhin ich hätte mich geheilt, als ich mein Gesicht massiert habe.
Meine Bettwäsche ist weiß-gelb gestreift. M. Sagt, es gibt keine hässliche Bettwäsche.
Dienstag will ich hier raus sein.

Meine Zimmernachbarin hat ein ziemlich krasses Leben. Dank ihrem ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis weiß ich jetzt fast alles darüber. Sie, MS, hatte vermutlich einen Schub, wohnt zusammen mit ihrem Mann, der querschnittsgelähmt ist, auf einem alten Hof, ihre Eltern sind noch relativ jung, ihre Oma, die auch in dem Haus wohnt, ein Vollpflegefall. 
Die wohnen alle zusammen und jammern wahrscheinlich den ganzen Tag. Ist ja auch ziemlich gemütlich, so ein schweres Leben.
Ich stelle mir vor, wie sie sich regelmäßig gegenseitig unter Drogen setzen um sich schlafend leichter zu ertragen.
L'enfer, ce sont les autres.

Kurz überlegt, ob ich auf die Säuglingsstation gehen sollte um mir Babys anzugucken. Hab mich dann aber nicht getraut und stattdessen das Aquarium zwischen Kinderstation und Andachtsraum angeguckt.
Richtig gerne hätte ich mit den Händen reingegriffen und ein paar Fischlis mitgenommen.

Mich auf den Kram für die Uni zu konzentrieren fällt mir hier richtig schwer, weil ich das Gefühl habe, das hat mit dem richtigen Leben überhaupt nichts zu tun.
Ich weigere mich, mich in eine Parallelwelt einzufügen, kann mich aber noch weniger mit der echten Welt abfinden.

Ich liebe die Neurologiestation! Es läuft immer mindestens ein verirrter alter Mensch über den Flur und muss von den Schwestern eingefangen werden. Vorhin auf dem Weg zum Rauchen, bevor ich das Aquarium entdeckt habe, treffe ich einen gestreiften Herren, der angeschnallt in einem Wagen sitzt und mich fragt ob ich ihn losmachen kann. Die Schwestern sagen aber, dass das alles schon so ok ist. Ein bisschen sind wir alle Guppys mit ein bisschen weniger Glaskasten.

Ich habe Blumen bekommen. Mitgebracht von meinen Freundinnen aus der Parallelwelt, gekauft in dieser Welt, Krankenhausen.
Ich liebe die Blase, in der ich mich sonst aufhalte und eigentlich hasse ich sie auch. Ich würde gerne nur noch einfach sehen. Doppelt ist sehr anstrengend und schwindelerregend.
Ist das schwer? Oder schwierig? Ich sehe doppelt, Interferenzen meiner Wirklichkeit. Überlagerungen von außen und innen, kann mir jetzt endlich mal jemand die Watte aus dem Kopf nehmen? Dankeschön.
Frau Zimmermann, auf dem Bild hier sind 5 Fehler versteckt, auf dem auch und auf dem auch und auf dem auch auf dem auch und auf dem auch und auf dem auch auf dem auch und auf dem auch und auf dem auch. Jetzt bewegen Sie mal nur die Augen, genau. Wenn das zu anstrengend wird, machen Sie eine kurze Pause.
Idiot.
Schon wieder hab ich geträumt, dass auf meinem Krankenhausbändchen stand, ich wäre HIV positiv. Ich habe kein Krankenhausbändchen.
„Schade, dass wir uns nichtmehr gesehen haben, ich werde sie vermissen“ schreibt jemand auf meine Facebookseite im Gedenkmodus, nachdem ich an meinem Hirntumor gestorben bin. Ich habe kein Facebook.
Der Bauch meiner Mitbewohnerin singt auf meiner Beerdigung, es ist eine Seebestattung. Ich hasse das, aber ich finds irgendwie ok, dass dann alle in einem Boot sitzen.
Da kann sich wenigstens keiner wegschleichen. Ich habe keinen Hirntumor.

Mein Körper fühlt sich nicht an wie meiner. Ich bin mir entfremdet worden. Durch meine Augen zieht ein Gewitter, Vibration findet aber nur links statt. Ch. steht vor einem Rätsel. Das ist wie ein Traum, aus dem ich mir aufzuwachen wünsche. Das ist doch irgendwie beunruhigend. Wenn Träume Zufluchtsorte sind, normalerweise haben sie mich mehr als alles andere aufgewühlt. Realität und Traum haben sich abgeklatscht und die Plätze gewechselt.
Ich fühle mich wie an einen Elektroschocker angeschlossen.

Die Räume haben sehr hohe Decken und alles ist weiß-orange. F. sagt, ich sei der Bosporus, und plötzlich finde ich mich in einer teichgroßen, laubgefüllten Pfütze am Fuße eines gigantischen Wasserfalls wieder. Ein Freund kommt vorbei, er streichelt mir den Kopf, ich sehe ihn nicht an, er möchte an der Pfütze mit seiner Mutter picknicken.

Der Bosporus (griechisch Βόσπορος „Rinderfurt“, von βοῦς boũs „Rind, Ochse“ und πόρος póros „Weg, Furt“; türkisch Boğaz „Schlund“, bzw. Karadeniz Boğazı für „Schlund des Schwarzen Meeres“; veraltet „Straße von Konstantinopel“) ist eine Meerenge zwischen Europa und Kleinasien, die das Schwarze Meer (in der Antike: Pontos Euxeinos) mit dem Marmarameer (in der Antike: Propontis) verbindet; daher stellt er einen Abschnitt der südlichen Innereurasischen Grenze dar. Auf seinen beiden Seiten befindet sich die Stadt Istanbul, deren Geografie er maßgeblich prägt. Der Bosporus hat eine Länge von ca. 30 Kilometern und eine Breite von 700 bis 2500 Metern. In der Mitte variiert die Tiefe zwischen 36 und 124 Metern (bei Bebek). Innerhalb des Bosporus liegt auf der westlichen Seite das Goldene Horn, eine langgezogene Bucht und ein seit langem genutzter natürlicher Hafen.

Später, wenn ich zu Hause bin, tanze ich durch die Küche, höre Jazzmusik und bin ganz euphorisch vor lauter zu Hause sein.

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